Weissrussland: Die wichtigsten Entwicklungen | NZZ


Die neusten Entwicklungen

Als Reaktion auf Sanktionen der EU ermuntert Lukaschenko Migranten, über Weissrussland die EU-Aussengrenze zu passieren. EU-Staaten mit einer Grenze zu Weissrussland reagieren mit dem Ausnahmezustand und Grenzschliessungen.

Polnische Soldaten und Polizisten bewachen die Grenze zu Weissrussland, wo hinter Stacheldraht seit Anfang November etliche Migranten in der Kälte ausharren.

Handout/Reuters

Die neusten Entwicklungen

  • Hunderte Migranten und Flüchtlinge harren in Weissrussland auch im neuen Jahr weiter an der Grenze zu Polen aus – in der Hoffnung auf Aufnahme in der Europäischen Union. 600 Personen seien in einer Notunterkunft in der Lagerhalle eines Logistikzentrums in Brusgi untergebracht; ihnen werde geholfen, teilte das weissrussische Rote Kreuz in Minsk auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur am Samstag (1. 1.) mit. Unter ihnen sind Männer, Frauen und Kinder. Viele haben Deutschland als Ziel; in der vergangenen Woche gelang mindestens einem lange an der Grenze gestrandeten Mann die Einreise in die Bundesrepublik, wie die dpa von der deutschen Familie des Irakers erfuhr. In Weissrussland traten mit dem Jahreswechsel auch Gegensanktionen als Reaktion auf Sanktionen der EU, der USA und anderer Staaten in Kraft. Mit dem 1. Januar ist die Einfuhr eines Grossteils an Waren aus dem Westen verboten.
  • Das weissrussische Innenministerium hat den Sender Radio Free Europe/Radio Liberty als extremistische Organisation eingestuft. Wie die Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag berichtet (23. 12.) drohen damit weissrussischen Online-Abonnenten des amerikanischen Senders bis zu sechs Jahre Gefängnis.
  • Die Lage der zwischen Weissrussland und Polen gestrandeten Flüchtlinge ist weiterhin desolat. Das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte rief beide Regierungen auf, dringend etwas zu unternehmen, um den Menschen zu helfen. Dazu seien sie nach internationalem Menschen- und Flüchtlingsrecht verpflichtet, sagte eine Sprecherin des Hochkommissariats (OHCHR) am Dienstag (21. 12.) in Genf. Laut der Uno-Organisation für Migration sind mindestens 21 Personen im Grenzgebiet ums Leben gekommen.
  • Das weissrussische Verteidigungsministerium hat offenbar Grenzverhandlungen mit Polen vorgeschlagen, um «kritische» Fragen zu erörtern. Das berichtet die Nachrichtenagentur RIA am Freitag (17. 12.). Worüber genau Weissrussland sprechen möchte, ist nicht bekannt.
  • Die weissrussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja und zwei ihrer Mitstreiterinnen erhalten den Karlspreis 2022. Tichanowskaja sowie Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo würden für ihren Mut und ihren ermutigenden Einsatz für Freiheit und Demokratie ausgezeichnet, teilte das Direktorium des Internationalen Karlspreises zu Aachen am Freitag (17. 12.) mit. Der Karlspreis wird seit 1950 an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verliehen, die sich um Europa und die europäische Einigung verdient gemacht haben.
  • In einer mehrstündigen Rettungsaktion haben polnische Grenzschützer, Soldaten und Feuerwehrleute vier Migranten geborgen, die sich im Grenzgebiet zu Weissrussland in einem Moor verirrt hatten. Mithilfe einer Drohne der Armee sei es gelungen, die Personen in dem schwer zugänglichen Gelände zu finden, teilte der Grenzschutz am Mittwoch (15. 12.) per Twitter mit. Dazu postete die Behörde das Bild von einem völlig durchnässten Mann, den Retter auf einer Trage aus dem Sumpf brachten. Wegen der Unterkühlung der Betroffenen sei es «ein Kampf um Leben und Tod» gewesen, hiess es in einer Mitteilung der Armee. Zwei der aus Syrien stammenden Flüchtlinge seien in ein Spital gebracht worden. Nach Angaben der Hilfsorganisation «Ocalenie» (Rettung) waren die Migranten bereits seit Montag in dem sumpfigen Gelände in der Nähe eines Stausees bei der Ortschaft Siemianowka herumgeirrt. Am Dienstag hätten sie den Helfern eine Textnachricht auf Arabisch geschickt. «Wir sind in Gefahr. Bitte tut alles, um zu uns vorzudringen. Wenn es sein muss, ruft die Polizei.» Die Migranten hätten auch deutlich gemacht, dass sie in Polen Asyl beantragen wollten.

Seit über 25 Jahren regiert Präsident Alexander Lukaschenko in Weissrussland. Bei den letztjährigen Präsidentschaftswahlen vom 9. August wurde er von Swetlana Tichanowskaja herausgefordert. Tichanowskaja fand in der Bevölkerung viel Zuspruch, Tausende von Weissrussen kamen zu ihren Wahlkampfterminen.

Der 66-jährige Lukaschenko erklärte sich noch am Wahlabend mit über 80 Prozent der Stimmen zum Sieger. Westliche Länder sind sich sicher, dass die Wahlen gefälscht wurden. Dies führte zu den bisher grössten Protesten in der Geschichte des Landes. Nach Schätzungen von Aktivisten waren an manchen Tagen mehr als eine halbe Million Menschen auf den Beinen. Allein in der Hauptstadt Minsk demonstrierten zum Teil Hunderttausende.

Die Demonstrationen verliefen friedlich, doch Tausende von Personen sind festgenommen worden. Die weissrussische Polizei wurde zudem vom Innenministerium ermächtigt, auf Demonstranten zu schiessen.

In Videos und auf Fotos vom November 2020 war zu sehen, wie Uniformierte teilweise ohne Erkennungszeichen friedliche Menschen brutal zu Boden drücken und verhaften.

In Videos und auf Fotos vom November 2020 war zu sehen, wie Uniformierte teilweise ohne Erkennungszeichen friedliche Menschen brutal zu Boden drücken und verhaften.

AP

Noch vor wenigen Jahren proklamierte Lukaschenko, sich nicht zwischen Russland und dem Westen als Partner festlegen zu wollen. Stattdessen versuchte er sich im Ukraine-Konflikt als Vermittler zu positionieren. Lukaschenko äusserte gar Interessen, bessere Beziehungen zur Nato pflegen zu wollen und brachte den Kreml damit in Alarmbereitschaft.

Die strategische Positionierung zwischen Ost und West diente Lukaschenko vor allem als Mittel, um eine Unabhängigkeit Weissrusslands zu garantieren. Sie täuschte jedoch nicht darüber hinweg, dass Lukaschenko das Land repressiv regierte und keine demokratischen Prozesse zuliess. Die westlichen Staaten sehen die Regierung von Machthaber Alexander Lukaschenko äusserst kritisch und erkennen die Wahl vom August 2020 nicht an.

Seit den gefälschten Wahlen nahmen die Repressionen gegen Oppositionelle und Journalisten weiter zu. Die EU versucht mit Sanktionen gegen die Wirtschaft des Landes sowie gegen Einzelpersonen Druck auf das Regime auszuüben. Machthaber Lukaschenko erklärte, man werde wegen der Sanktionen Gegenmassnahmen gegen die EU ergreifen, führte jedoch nicht im Details aus, wie diese aussehen könnten.

Die EU und besonders die betroffenen Nachbarstaaten Lettland, Litauen und Polen werfen Lukaschenko vor, in organisierter Form Flüchtlinge aus Krisenregionen an die EU-Aussengrenze bringen zu lassen, um Druck auf die EU auszuüben. Der Grenzstreit führte unter anderem dazu, dass Lettland am 11. August den Ausnahmezustand ausrief. Anfang November wurde er bis zum 10. Februar 2022 verlängert. Die Massnahme ermächtigt den lettischen Grenzschutz, illegal aus Weissrussland eingereiste Migranten zurückzuschicken. Bis Mitte Oktober wurden so nach Angaben des Innenministeriums fast 1800 Personen von einem illegalen Übertritt der Grenze zu Weissrussland abgehalten. Auch Polen rief Anfang September den Ausnahmezustand aus und verlängerte diesen am 1. Oktober um 60 Tage.

Die Bundespolizei registrierte bis Ende November mehr als 10 000 illegale Einreisen

Unerlaubte Grenzübertritte an der deutsch-polnischen Grenze im Jahr 2021

Seit Anfang November spitzt sich die Lage auch an der Grenze zu Polen zu. Seit dem 8. November versuchen immer wieder grössere Gruppen von Migranten, die EU-Aussengrenze von weissrussischer Seite aus zu durchbrechen. Nach Erkenntnissen der polnischen Behörden hielten sich zu dem Zeitpunkt zwischen 3000 und 4000 Migranten im weissrussisch-polnischen Grenzgebiet auf. Das weissrussische Regime ermuntert die Migranten offenbar dazu, indem es ihnen verspricht, die Grenze zur EU stehe ihnen offen. Der polnische Grenzschutz hingegen reagiert mit Grenzschliessungen und Tränengas, um die Migranten aufzuhalten. Nach Lettland und Polen hat auch Litauen im Grenzgebiet zu Weissrussland den Ausnahmezustand ausgerufen.

Inzwischen wurden Hunderte von Menschen zurück in ihre Heimat geflogen. Sie berichten Folter und Misshandlung in den Notunterkünften an der Grenze. Doch im Westen der Ex-Sowjetrepublik warten weiterhin Tausende von Migranten darauf, dass sich die Grenze insbesondere zu Polen öffnet. Sie wollten bleiben, bis die EU sie reinlasse, sagten zahlreiche Iraker und Syrer einem Reporter der Deutschen Presse-Agentur in einer Notunterkunft in Brusgi. Der Grenzpunkt dort ist mit Betonbarrieren und Stacheldraht geschlossen.

Versuche etwa von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Lage durch Gespräche mit Lukaschenko zu beruhigen, sehen die Nachbarländer Weissrusslands kritisch, weil die EU Lukaschenko nicht mehr als Staatsoberhaupt anerkennt. Polens Präsident Andrzej Duda unterstrich zudem, sein Land werde keine Vereinbarungen akzeptieren, die ohne seine Beteiligung getroffen würden. «Wir sind ein souveränes Land, das das Recht hat, selbst über sich zu entscheiden.»

Lukaschenko führt das Land seit 1994 und trat jetzt seine sechste Amtszeit an. Aufgrund eines Referendums im Jahr 2006 kann er sich unbegrenzt oft wählen lassen – zuvor war die Amtszeit eines Präsidenten auf zwei Perioden begrenzt. Im Demokratie-Index 2019 der britischen Zeitschrift «The Economist» belegt Weissrussland Platz 141 von 167.

Der weissrussische Präsident Alexander Lukaschenko wird manchmal als «der letzte Diktator» Europas bezeichnet.

Der weissrussische Präsident Alexander Lukaschenko wird manchmal als «der letzte Diktator» Europas bezeichnet.

Andrei Stasevich / Belta / Pool / EPA

Von 1975 bis 1977 arbeitete Lukaschenko als politischer Instruktor für den sowjetischen Geheimdienst KGB, von 1980 bis 1982 war er als Polit-Kommissar bei der Roten Armee tätig. Er hat früh gelernt, die sowjetische Staatsideologie zu verteidigen. Seine diktatorischen Praktiken sind drastisch. So liess Lukaschenko unter anderem zahlreiche Demonstrationen oppositioneller Gruppen gewaltsam unterdrücken und Kritiker festnehmen. Einige von ihnen sind bis heute verschwunden und dürften umgebracht worden sein.

Seit dem Sturz des damaligen jugoslawischen Staatspräsidenten Slobodan Milosevic im Jahr 2000 bezeichnen Kritiker Lukaschenko als Europas letzten Diktator. Er gilt als Verfechter eines streng sozialistischen Systems in Europa.

Trotz neuen Sanktionen aus dem Westen bekommt Lukaschenko weiter Hilfe aus Moskau. Nach einem Besuch von Lukaschenko in der Sommerresidenz von Wladimir Putin im Mai 2021 in Sotschi fuhr der Langzeitautokrat mit einem 500 Millionen Dollar Unterstützungskredit wieder nach Hause.

Die beiden Präsidenten Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin bei einem Treffen im November 2017.

Die beiden Präsidenten Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin bei einem Treffen im November 2017.

Tatyana Zenkovich / AP

Putin steht hinter Lukaschenko, somit hat dieser keine Motivation, innenpolitisch etwas zu ändern. Allerdings übernimmt Moskau nicht die Darstellung der Schwierigkeiten als gemeinsame, russisch-weissrussische Herausforderung. Nur zögerlich gibt Russland weitere Kredite frei für das Nachbarland, dessen Wirtschaftsmodell jahrelang auf indirekten russischen Subventionen beruhte. Der Wirtschaft geht es schlecht, unter den gegebenen Bedingungen ist keine Besserung in Sicht.

Der Programmierer Andrei Selzer, der Ende September bei einer Razzia des weissrussischen Geheimdienstes erschossen worden ist.

Der Programmierer Andrei Selzer, der Ende September bei einer Razzia des weissrussischen Geheimdienstes erschossen worden ist.

Valentyn Ogirenko / Reuters

Die Behörden im autoritär regierten Weissrussland haben am 23. Mai 2021 eine Passagiermaschine der irischen Fluggesellschaft Ryanair auf dem Weg von Athen nach Vilnius in Litauen umgeleitet und zur Notlandung in der weissrussischen Hauptstadt Minsk veranlasst. Als Vorwand diente eine offenbar fingierte Bombendrohung. Die Aktion zielte nach Einschätzung westlicher Regierungen und Beobachter auf einen prominenten Passagier an Bord, den vom weissrussischen Regime international gesuchten Journalisten und Oppositionsaktivisten Roman Protasewitsch. Dieser wurde nach der Landung in Minsk zusammen mit seiner Freundin Sofia Sapega festgenommen.

An Bord befanden sich mehr als 120 Passagiere. Unter ihnen waren überwiegend Litauer, aber auch einige deutsche Staatsbürger, Personen aus weiteren EU-Staaten sowie mehrere Amerikaner. Sie konnten erst nach einem siebenstündigen, von Kontrollen und langem Schlangestehen begleiteten Aufenthalt in Minsk nach Vilnius weiterreisen. Nach Ansicht des Ryanair-Unternehmenschefs Michael O’Leary waren auch Agenten des weissrussischen Geheimdienstes KGB an Bord.

Beim EU-Gipfel vom 24. Mai wurden neue Sanktionen gegen Weissrussland beschlossen. Laut dem Beschluss des EU-Rats dürfen weissrussische Fluggesellschaften künftig nicht mehr den Luftraum der EU nutzen und auch nicht mehr Flughäfen in der EU anfliegen. Anfang Juni fügte die EU gezielte Wirtschaftssanktionen hinzu und verhängte Einreisesperren gegen Unterstützer Lukaschenkos . Die USA, Kanada und Grossbritannien haben ebenfalls Strafmassnahmen beschlossen.

Aufgrund der Situation an der polnisch-weissrussischen Grenze reagierte die EU Anfang November mit weiteren Sanktionen gegenüber Minsk. So wurden Visaerleichterungen für Weissrussland teils ausgesetzt. Der Entschluss betrifft gezielt Amtsträger des weissrussischen Regimes. Auch Fluggesellschaften von Drittstaaten werden sanktioniert, die am Transport von Migranten nach Weissrussland beteiligt sind.

Auf Druck der EU hin lässt die Türkei Staatsbürger mehrerer arabischer Staaten nicht mehr von ihrem Staatsgebiet aus nach Weissrussland fliegen.

Die weissrussischen Behörden hatten am 24. Mai die Festnahme des Bloggers und Oppositionsaktivisten Roman Protasewitsch bestätigt. Er sei in Untersuchungshaft genommen worden, teilte das Innenministerium im Nachrichtenkanal Telegram mit. In einem von den Justizbehörden veröffentlichten, vermutlich unter Zwang entstandenen Video sagte der 26-Jährige, dass er gut behandelt werde und bereits ein Geständnis abgelegt habe. In einem zweiten, am 3. Juni im weissrussischen Staatsfernsehen ausgestrahlten Interview lobt der Blogger Machthaber Lukaschenko. Auch in diesem Fall wird vermutet, dass die Aussagen mit Drohungen und Folter erzwungen worden sein könnten.

Viele Weissrussen fordern die sofortige Freilassung des Bloggers Roman Protasewitsch.

Viele Weissrussen fordern die sofortige Freilassung des Bloggers Roman Protasewitsch.

Sadak Souici / Le Pictorium

Protasewitsch, der in seiner Heimat unter anderem wegen Anstiftung zu Protesten gegen Lukaschenko zur Fahndung ausgeschrieben war, hatte im Exil in Litauen gelebt. Ihm drohen nun viele Jahre Haft oder gar die Todesstrafe. Laut BBC Russia wurde der Blogger nun aber mit seiner ebenfalls inhaftierten Freundin, der Russin Sofia Sapega, in den Hausarrest verlegt. Auch ein Video der beiden veröffentlichte das Regime. Darin gibt Sapega an, einen regimekritischen Telegram-Kanal betrieben zu haben. Ihre Eltern betonen jedoch gegenüber Medien, Sapega habe sich nicht für Politik interessiert, sie halten das Geständnis der Tochter für erzwungen.

Alexander Lukaschenko hat Mitte Februar 2021 eine neue Verfassung mit weniger Vollmachten für den Präsidenten angekündigt, über die das Volk Anfang 2022 abstimmen soll. Gleichzeitig machte Lukaschenko klar, dass er noch länger an der Macht bleiben will. Es werde irgendwann ein Weissrussland ohne ihn geben, sagte er bei der zweitägigen Gesamtweissrussischen Volksversammlung in Minsk. Aber: «Verstehen Sie, nicht heute, nicht morgen, nicht übermorgen.»

Die Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja hält Neuwahlen für den einzigen Ausweg aus der derzeitigen Situation in ihrem Land. «In den Augen des Volkes ist Lukaschenko nicht mehr länger der legitime Präsident», sagte sie nach einem Treffen mit Polens Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki im September 2020. Ungeachtet dessen hat sich Lukaschenko für eine neue Amtszeit vereidigen lassen. Die Amtseinführung fand ohne vorherige Ankündigung und hinter verschlossenen Türen statt.

Tichanowskaja, die überraschenderweise zur Wahl zugelassen wurde, stellte gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen Maria Kolesnikowa und Weronika Zepkalo zum ersten Mal seit Jahren eine ernstzunehmende Herausforderung für das Regime dar. Um die drei Frauen bildete sich eine lose Protestbewegung.

Nachdem sich Lukaschenko zum Sieger erklärte, reiste Tichanowskaja nach Litauen aus, mutmasslich auf Druck des Regimes hin. Seitdem unterstützt sie die Proteste aus dem Ausland. Am 17. August 2020 erklärte sie sich in einer Videobotschaft aus ihrem Exil bereit, die Bewegung gegen Lukaschenko zu führen. «Ich bin bereit, in dieser Zeit Verantwortung zu übernehmen und als nationale Anführerin zu handeln», sagte die 38-Jährige. Ende September wurde bekannt, dass sie aus dem Exil mit der Bildung einer alternativen Führung für Weissrussland begonnen habe.

Am 31. August 2020 gab die Demokratiebewegung in Weissrussland um die Oppositionelle Maria Kolesnikowa die Gründung einer Partei zur Erneuerung des Landes bekannt. Die politische Kraft mit dem Namen «Wmestie»– zu Deutsch: «Gemeinsam» – solle den Menschen, die Veränderungen wollten, eine Basis geben, sagte die damals 38-Jährige.

Maria Kolesnikowa.

Maria Kolesnikowa.

Vasily Fedosenko / Reuters

Kolesnikowa hat viele Jahre von Stuttgart aus internationale Kulturprojekte geleitet und lebt seit einiger Zeit wieder dauerhaft in Minsk. Sie gilt als eines der wichtigsten Gesichter in der Bürgerbewegung gegen Staatschef Alexander Lukaschenko. Anfang September vorigen Jahres wurde Maria Kolesnikowa vom Geheimdienst KGB in Minsk entführt. Als sie in die Ukraine abgeschoben werden sollte, zerriss sie kurz vor dem Grenzübergang ihren Pass und vereitelte so Pläne, sie aus dem Land zu vertreiben.

Die Aktivistin betonte immer wieder, den Kampf gegen Lukaschenko nicht aus dem Ausland führen zu wollen. Zuvor war die Oppositionelle Olga Kowalkowa ins Nachbarland Polen ausgereist. Sie sei von den Behörden in Weissrussland dazu gedrängt worden, sagte Kowalkowa laut dem Internetportal tut.by am 5. September 2020. Anfang September 2021 wurde Maria Kolesnikowa in einem international kritisierten Prozess zu elf Jahren Straflager verurteilt. Der autoritäre weissrussische Staatsapparat wirft ihr versuchte Machtergreifung vor.

Lukaschenko geht seit Jahren mit repressiven Mitteln gegen seine Kritiker vor. Ernstzunehmende Herausforderer hatten keine Chance, überhaupt bei der Wahl anzutreten. Die Zulassung Swetlana Tichanowskajas kam deshalb überraschend.

Vor der Wahl im Jahr 2006, zu der er nur aufgrund einer Verfassungsänderung zugelassen werden konnte, verschärfte Lukaschenko sein Vorgehen gegen Kritiker. Dasselbe tat er bei den darauffolgenden Wahlen in den Jahren 2010 und 2015.

Lukaschenko gewann alle vergangenen Wahlen offiziell mit über 80 Prozent der Stimmen, die Ergebnisse wurden jedoch immer angezweifelt. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stellte regelmässig Unstimmigkeiten fest. Zudem kam es mehrmals zu Grossdemonstrationen gegen die Regierung, welche in der Regel brutal niedergeschlagen wurden.

Demonstranten versammelten sich im vergangenen August in Minsk und skandierten: «Geh weg!» Die Protestrufe richteten sich gegen Präsident Alexander Lukaschenko, der bereits seine sechste Amtszeit antritt.

Demonstranten versammelten sich im vergangenen August in Minsk und skandierten: «Geh weg!» Die Protestrufe richteten sich gegen Präsident Alexander Lukaschenko, der bereits seine sechste Amtszeit antritt.

Sergei Grits / AP

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