Kein Wunder, dass „Zone of Interest“ zwei Oscars erhielt. Es zeigte uns den Holocaust wie nie zuvor.

Christian Friedel als Rudolf Höss, der Lagerkommandant von Auschwitz, in „The Zone of Interest“.

  • „Zone of Interest“ gewann den Oscar für den besten internationalen Spielfilm und den besten Ton.
  • Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender von Axel Springer, bezeichnet den Film in seiner Rezension als den ungewöhnlichsten – und besten – Film über den Holocaust.
  • Indem er die Gewalt nie zeigt, schafft Regisseur Jonathan Glazer eine beunruhigende Vision von Massenmord.

Diese Kolumne von Mathias Döpfner, dem CEO der Insider-Muttergesellschaft Axel Springer, erschien ursprünglich in WELT, eine weitere Axel-Springer-Publikation. Eine übersetzte Version erscheint unten. Die geäußerten Ansichten sind seine eigenen.

Mein Wochenende in Cannes sollte unbeschwert sein: Zwei Tage lang etwas Rosé in der Frühlingssonne an der Croisette, die Preisverleihung des Filmfestivals, das die weltweit begehrte Goldene Palme verleiht.

Auch die Filme sollten genauso fröhlich sein wie mein Wochenende. So fröhlich wie die erste Szene des seltsam benannten Films „The Zone of Interest“ – basierend auf dem gleichnamigen Roman von Martin Amis, der am Tag der Premiere des Films in Cannes starb. Ein Picknick am Fluss. Hellgrüne Blätter am Ufer, silbrig schimmert die Wasseroberfläche. Keuchhusten erfüllt die Luft. Ein Familienausflug mit dem Fahrrad, spielende und schwimmende Kinder, glückliche Eltern. Ein Frühsommertraum. Familie Höss im Sommerurlaub. Ein Abgrund.

Aber diese fröhliche Illusion hielt nicht an. Die Bilder und Töne von A24s „Zone of Interest“, die etwas mehr einbrachten 24 Millionen US-Dollar an den weltweiten Kinokassen, verfolgen mich seit diesem Wochenende. Es ist der erste Film, der genau zeigt, wie das Holocaust war möglich. Es ist der ungewöhnlichste – und meiner Meinung nach beste – Holocaust-Film, der bisher gedreht wurde. Und ich fange an, etwas zu verstehen, was ich noch nie zuvor verstanden habe.

Anders als die meisten Holocaust-Filme erzählt Jonathan Glazer, Regisseur von „The Zone of Interest“, die Geschichte aus der Perspektive der Täter – und damit der Mörder. Genauer gesagt erzählt er die Geschichte von Rudolf Höss, dem Lagerkommandanten von Auschwitz, einem der schlimmsten Verbrecher des Nationalsozialismus.

„Zone of Interest“ fängt ein Leben ohne Liebe perfekt ein

Ein Standbild aus Zone of Interest.
Ein Standbild aus „Zone of Interest“.

Glazers Film spielt in der in den Vierzigern modernen Kommandantenvilla: rechte Winkel, nüchterner grauer Putz. Das Haus steht (noch) direkt an der Lagermauer. Dahinter rauchen die Verbrennungsanlagen ununterbrochen. Hinter der Mauer beginnt das Reich des Todes, in dem bis zur Befreiung des Lagers im Januar 1945 mehr als eine Million Menschen ermordet wurden.

Um die Betonmauer weniger brutal und sympathischer wirken zu lassen, pflanzte Hedwig Höss, die Frau des Kommandanten, Weinreben davor. Der Garten war ihr ganzer Stolz, ihr „Paradiesgarten“ – liebevoll bepflanzt mit Stauden, Obstbäumen, Blumenbeeten, Gemüsebeeten und einem quadratischen Pool mit Rutsche für die Kinder. Eine perfekte Welt, dort, zu Hause, in der Villa direkt an der Mauer des Stammlagers Auschwitz, Teil des größten Massenvernichtungslagers aller Zeiten. Hier lebten Rudolf und Hedwig Höss seit 1940 mit ihrer wachsenden Familie von fünf Kindern.

In einer weiteren frühen Szene des Films ist Rudolf Höss (Christian Friedel) Geburtstag. Seine Frau (Sandra Hüller) besorgte ihm ein Ruderboot. Schon diese frühe Szene enthält die Essenz dieses Films. Der Familienvater ist von der Emotion des Augenblicks entfremdet, er setzt eines seiner Kinder ins Boot, als wäre es eine Fotosession für den „Völkischen Beobachter“. Er und die ganze Familie, verkrampft und letztlich lieblos, geben vor, glücklich zu sein. Pure Kälte. Es ist die Abwesenheit von Liebe, die alles erklärt.

Auch die Bettszenen des Paares haben mich in ihrer Besonderheit beeindruckt. Die Höss schlafen in einem Zimmer, aber getrennt. Ihre Hausschuhe vor jedem Einzelbett. Kein Sex. Keine Liebe. Rudolf zermartert sich den Kopf, bevor er einschläft. Hedwig ist so frustriert, dass sie hysterisch lacht. Die Abwesenheit von Liebe als Voraussetzung für Massenmord.

Im Film wird nicht über Gewalt gesprochen. Es wird geflüstert.

Ein Standbild aus „Zone of Interest“.

Jonathan Glazer hat diesen Film innerhalb von 50 Tagen produziert und dabei das Höss-Haus Stück für Stück nachgebaut. Zehn Kameras wurden im Haus installiert und vom Regieteam ferngesteuert. Dies ermöglichte es den Schauspielern, sich im Alltag zu bewegen.

Eines Tages treffen sich der „Chefverbrennungsingenieur“ Kurt Prüfer und sein Vorgesetzter Fritz Sander von der Firma Topf und Söhne in Erfurt mit Höss. Sie haben eine neue Technologie für Krematorien entwickelt. 24-Stunden-Betrieb. Effizienter als alles zuvor. Höss ist begeistert. Die Sprache erinnert an die Wannsee-Konferenz. Kalt. Unecht. Euphemistisch. Es gibt keine ermordeten Menschen. Es gibt nur „Fracht“, die „geladen“ wird.

Kurz nach dem Treffen geht die Familie Höss noch einmal im Fluss schwimmen. Der Vater fischt im Wasser und hat plötzlich Skelettteile in der Hand. Und Asche auf seiner Haut. Ein Missgeschick. Alle gehen schnell nach Hause, um den „jüdischen Dreck“ abzuwaschen.

Gelegentlich bestellt Höss eine Lagerinsasse zum Sex ins Büro. Das reale Vorbild für diese Szene ist Höss‘ Beziehung zu Auschwitz-Häftling Nora Mattaliano-Hodys, die von Höss geschwängert wurde, wurde in Einzelhaft gesteckt und zu einer Abtreibung gezwungen. Im Film rennt Höss nach dem Koitus durch bunkerartige Gänge zu einem Waschraum, um sich von „Scham“ zu reinigen. Ängstlich reibt er sein Geschlecht mit dem desinfizierten Waschlappen ab. Eine Szene besonderen Ekels.

Das Provokative an diesem Film ist seine Kälte. Nüchtern wie ein Wissenschaftler beobachtet Glazer die Ereignisse im „Paradiesgarten“ am Tor zur Hölle. Hier blühen die Sonnenblumen. Dort, jenseits der Mauer, glühen die Schornsteine.

Eines Tages kommt die Mutter von Hedwig Höss zu Besuch. Die Tochter führt sie stolz durch den Garten, erklärt ihr die Pflanzen, beklagt, wie hart Rudolf jeden Tag arbeiten muss und schwärmt davon, wie schön das Leben hier sei. Stolz strahlend sagt sie: „Sie nennen mich die Königin von Auschwitz.“

Die Blüten der Blumen im Garten der Familie Höss sind ständig von der grauen Asche aus den Schornsteinen der Krematorien bedeckt. Die Eltern und die Kinder haben sich daran gewöhnt. Sie kennen es nicht anders. Irgendwann hält die Schwiegermutter es nicht mehr aus und geht heimlich, ohne sich zu verabschieden.

Die heile Welt vor der Mauer zum Inferno gerät erst mit der Versetzung von Rudolf Höss nach Berlin ins Wanken. Hedwig gefällt das überhaupt nicht. Sie möchte Auschwitz und ihr unbeschwertes Leben dort nicht aufgeben. Höß gelingt es, seine Familie zum Bleiben zu bewegen. Das Haus ist in gutem Zustand. Und Höss selbst wird nach kaum sechs Monaten ins Lager zurückbeordert.

„Zone of Interest“ hat einen Soundtrack des Horrors geschaffen

Ein Standbild aus Zone of Interst.

Wichtiger als die Bilder des Films sind seine Töne. Mica Levi, die Komponistin der Filmmusik, hat eine dystopische Melodie der Apokalypse geschrieben. Der Soundtrack erzeugt eine Horror-Soundlandschaft, die die apokalyptische genozidale Enthüllung der anständigen deutschen Familie darstellt. Das ständige Schreien eines Babys ist das Hauptgeräusch der Familie und auch das Symbol ständiger Verärgerung. Von jenseits der Mauer erklingen die Schreie, das Hundegebell, die verängstigten Kinderstimmen. Und immer wieder das dumpfe, kurze Geräusch von Schüssen. Während Frau Höss mit ihrer Mutter durch den Blumengarten schlendert und die sonnenbeschienenen Sträucher riecht, ist dort drüben – zack – schon wieder einer gestorben.

Die Genialität des Films liegt auch darin, dass er nie den Horror zeigt. Wir kennen die Bilder. Während wir die Geräusche eines Mordes hören, formen sie sich in unserer Vorstellung. Grausamer als jedes zuvor im Kino gezeigte Bild. Die Gewalt wird unterdrückt, marginalisiert und dadurch ermöglicht. Daran erinnert uns „The Zone of Interest“ wie eine beunruhigende Vorahnung.

Gibt es nichts Gutes in Höss’ respektablem Horrorhaus? Nicht im Inneren. Aber draußen. Nachts stiehlt ein polnisches Mädchen Äpfel und Birnen aus dem Höss-Garten und verteilt sie heimlich dorthin, wo die Zwangsarbeiter am nächsten Tag arbeiten müssen. Die Sequenzen wurden mit militärischer Wärmebildkameratechnik gefilmt – ein erschütterndes Bild, das die mitfühlende Handlung vom Rest des Films abhebt. Eine verzweifelte Geste der Menschlichkeit bei dieser Gräueltat. Doch die Schüsse und Vergasungen gehen weiter. Nicht in Bildern, sondern in den Geräuschen, die über die Wand wabern.

Bei Höss bleibt alles kalt und lieblos. Der Alltag der „Banalität des Bösen“. Das hat Hannah Arendt in ihrem Buch über die Eichmann-Prozesse beschrieben. „The Zone of Interest“ hat diesem Gedanken seinen filmischen Ausdruck verliehen.

Am Ende sind wir Zuschauer zu nah dran. Wir beginnen im Haus der Höss zu wohnen. Wir beginnen, Mitglieder der Familie Höss zu werden. Bei der Holocaust-Gedenkmuseum In Washington erhält man beim Betreten der Dauerausstellung den Personalausweis eines Juden. Sie nehmen die Perspektive der Opfer ein. Im Film von Jonathan Glazer ist das Gegenteil der Fall. Man kommt der Rolle des passiven Täters widerlich nahe.

Am Ende bleibt nur Abscheu. Rudolf Höss rennt die Treppe eines großen Gebäudes hinunter. Und fängt an zu erbrechen. Er muss sich aus Ekel vor sich selbst übergeben. Die Szenen seiner körperlichen Abscheu werden mit modernen Bildern aus der Gedenkstätte Auschwitz unterbrochen, die Reinigungskräfte kommen mit Staubsaugern und reinigen mit den Kinderschuhen die Vitrinen. Im Lager rauchen die Schornsteine. Im Garten blühen die Blumen.

Kann ein Film so kalt sein? Es muss. Die Mörder waren noch kälter.

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