Zusammenfassung der Berliner Filmfestspiele 2022 – Ernst, Freude und der beste Film gewonnen | Berliner Filmfest

Früher waren die Berliner Filmfestspiele eine seltsam widersprüchliche Angelegenheit. Es war bekannt für kunstvoll kitschige Eröffnungs- und Abschlusszeremonien und Wettbewerbsfilme, die auf das soziale Gewissen lasteten: Champagner auf dem roten Teppich, Grünkohlsaft auf der Leinwand.

Das diesjährige Berlin war anders seltsam. Das Festival im Februar 2021 war nur online, bot aber die beste Auswahl an Titeln in jüngster Zeit. Dieses Jahr ging wieder ein etwas kürzeres Festival live – und wenn seine Auswahl nur in der gleichen Liga gewesen wäre, hätte es vielleicht das seltsam trostlose Gefühl der Veranstaltung ausgeglichen. Der Vertriebsmarkt des Festivals war online gegangen, was weniger Delegierte bedeutete, teilweise aufgrund der immer noch strengen Covid-Beschränkungen in Deutschland, die auf täglichen Tests als Voraussetzung für den Zugang zu Pressevorführungen bestanden. All dies ließ den ungewöhnlich ruhigen Palastbereich wie eine Kunstinstallation erscheinen, die an die vergangenen Tage des Checkpoint Charlie erinnert.

Was die Filme betrifft, so hatte ein Großteil der Wettbewerbsauswahl die düstere Ernsthaftigkeit der alten Berlinale, mit wenig Sinn für furchtlose formale Experimente. Aber ein bisschen Freude war auch dabei. Sie hätten vielleicht erwartet, dass eine Jury unter dem Vorsitz von M Night Shyamalan in letzter Minute eine schockierende Wendung finden würde. Die Wendung war, dass sie es nicht taten: Sie vergaben den Goldenen Bären für den besten Film an den Titel, der ihn verdiente, Carla Simóns Alcarrals. Ein realistisches Drama über eine katalanische Familie, der die Vertreibung aus dem Land droht, auf dem sie Pfirsiche anbaut, es ist sehr politisch und enorm überschwänglich. Der Film ist reich an immersiven Details und mit einem wimmelnden Ensemble hervorragend besetzt, darunter drei Kinder, die Simón scheinbar sich selbst überlassen hat, um eine unwiderstehliche anarchische Wirkung zu erzielen. Es ist auch ein historischer Gewinn: der dritte Hauptpreis innerhalb eines Jahres für Regisseurinnen bei europäischen Festivals, nach Julia Ducournau Titan in Cannes und bei Audrey Diwan Ereignis in Venedig.

„Berauschendes Melodram“: Denis Ménochet und Isabelle Adjani in Peter von Kant.

Es war ein gutes Jahr für Frankreich. Der Eröffnungsfilm von François Ozon, Peter von Kantist eine schlaue Hommage an den deutschen Maestro Rainer Werner Fassbinder, eine geschlechtsumgekehrte Neuerfindung des RWF-Klassikers von 1972 Die bitteren Tränen der Petra von Kant, mit dem massigen Denis Ménochet als liebeskrankem schwulen Autorenfilmer, der Fassbinder sehr ähnlich sieht. Außerdem mit Original-Fassbinder-Star Hanna Schygulla und einer weiteren 70er-Legende, Isabelle Adjani, Peter von Kant ist ein schlaues, poliertes Konfekt aus Schalk, Melancholie und berauschendem Melodram.

Eine weitere französische Starautorin, Claire Denis, war mit dabei Beide Seiten der Klinge, mit Juliette Binoche als Frau, die zwischen ihrem Partner (Vincent Lindon) und ihrem Smoothie-Ex gefangen ist. Es ist seltsam, eine Radikale wie Denis innerhalb der traditionellen Parameter des bürgerlichen Ehedramas arbeiten zu sehen, aber sie tut dies mit einer charakteristisch beunruhigenden Eigenart. Im Gegensatz dazu Mikhaël Hers Die Passagiere der Nacht war ein sanftes Alt-Feelgood-Drama. Es spielt im Paris der 1980er Jahre und zeigt Charlotte Gainsbourg, wie sie als frisch geschiedene Frau, die einen Job in einer Late-Night-Radiosendung bekommt, die Form beeinflusst. Vielleicht zu freundlich Zen, um tief in die dunklen Bereiche der Geschichte zu blicken, ist es dennoch ein ungemein zartes, atmosphärisches Stück – ein Nostalgie-Trip mit Herz und Subtilität.

Vincent Lindon und Juliette Binoche in „Beide Seiten der Klinge“.
Vincent Lindon und Juliette Binoche in „Beide Seiten der Klinge“ von Claire Denis. Foto: Filmfestspiele Berlin 2022

Der kühnste Wettbewerbsbeitrag war Robe aus Edelsteinen, ein beunruhigender, manchmal mysteriöser mexikanischer Film über eine wohlhabende Familie, die mit brutalen Folgen in eine ländliche Villa zieht. Seine Themen sind aus dem mexikanischen Drama bekannt – Gewalt, Korruption, die Kluft zwischen Arm und Reich –, aber von Debütregisseurin Natalia López Gallardo wurde ihm ein wirklich beunruhigendes Beben verliehen. Früher als Redakteurin von Carlos Reygadas bekannt, hat sie ihren eigenen Albtraumstil entwickelt.

Zu den Nebenattraktionen außerhalb des Wettbewerbs gehörte Andrew Dominiks Musikdokumentation So viel weiß ich, um wahr zu sein, das spärliche Auftritte von Nick Cave und Warren Ellis mit Zwischenspielen durchsetzt, in denen sie ihre Arbeitsweise diskutieren, und einem Intro, in dem Cave sein äußerst bizarres Keramikset enthüllt, das die Biographie des Teufels darstellt. Dann war da Fluss-Gourmet, des britischen Erzkonzeptualisten Peter Strickland. Es spielt in einem Institut, in dem „kulinarische Kollektive“ buchstäblich experimentelle Sound-Performances kochen. Mit Asa Butterfield und Gwendoline Christie in den Hauptrollen ist es ein wenig pedantisch in seinem Humor, mehr als nur ein wenig an Peter Greenaway erinnernd, aber visuell auffällig, und es ist gut zu sehen, dass Strickland immer noch seine Freak-Flagge auf dem konformistischen Terrain des britischen Kinos hisst.

Gwendoline Christie und Asa Butterfield in Peter Stricklands Flux Gourmet.
Gwendoline Christie und Asa Butterfield in Peter Stricklands Flux Gourmet. Foto: Filmfestspiele Berlin 2022

Dezenter outré, und der beste Spaß hier, war Unglaublich, aber wahrvon Quentin Dupieux, dem Japester dahinter Hirschleder und Mandibeln. Seine neueste Zottelhund-Geschichte handelt von einem Paar, das im Keller ihres neuen Zuhauses etwas Bizarres entdeckt; nicht so sehr ein Ding, eher eine philosophische Einbildung, die der Film mit unwiderstehlich komischer Logik untersucht.

Der ergreifendste Film des Festivals musste ein italienischer Wettbewerbsbeitrag sein Leonora Addio. Paolo Taviani arbeitete jahrzehntelang mit Bruder Vittorio als eines der großen Geschwisterduos des Kinos zusammen. Nach Vittorios Tod führt er als Soloregisseur eine Hommage an ihn und den großen italienischen Schriftsteller Luigi Pirandello. Es besteht größtenteils aus einer großartig gedrehten Schwarz-Weiß-Erzählung über die Rückkehr von Pirandellos Asche in seine Heimat Sizilien und ist eine fröhliche, reuevolle Betrachtung von Kunst, Geschichte und Sterblichkeit.

Als Nachdenken über das Alter wurde es von Mitra Farahanis exzentrischem Arzt gut ergänzt Bis Freitag, Robinson, in der Jean-Luc Godard (91) E-Mails mit dem erfahrenen iranischen Regisseur und Autor Ebrahim Golestan (99) austauscht. Godard schickt rätselhafte Zitate von Dashiell Hammett. Golestan, gefilmt in seinem riesigen, Xanadu-ähnlichen englischen Zuhause, sinniert ironisch, dass Godard sich verarschen könnte. Wir können auch sehen, wie Godard seine Hemden bügelt – eine dieser filmischen Premieren, die Sie wirklich gerne miterlebt haben.

Das Beste aus Berlin

Goldener Bär für den besten Film Alcarràs von Carla Simon

Große Jury des Silbernen Bären Preis- Der Film des Romanautors, der 27. Spielfilm von Koreas unheimlich konsequentem Hong Sang-soo. Wie immer eine feingeschliffene Komödie über Manieren und Missverständnisse.

Jurypreis Silberner Bär Robe aus Edelsteinen von Natalia López Gallardo.

Silberner Bär für die beste Regie Claire Denis, Beide Seiten der Klinge (aka Feuer).

Speziell erwähnen Der Schweizer Michael Koch für sein imposantes Alpendrama Ein Stück Himmel.

Meltem Kaptan, rechts, mit Alexander Scheer in Rabiye Kurnaz Vx George W. Bush.
Meltem Kaptan, rechts, mit Alexander Scheer in Rabiye Kurnaz Vx George W. Bush. © Andreas Höfer/ Pandora Film

Silberner Bär für beste Führungsleistung Meltem Kaptan ein Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush. Der deutsch-türkische TV-Stammgast Kaptan war in dieser komisch gefärbten Geschichte einer Frau, die für die Befreiung ihres Sohnes aus Guantánamo kämpft, ungestüm und charakterstark. Aber ihr Publikumserfolg sollte andere herausragende Turns nicht verdecken: zB Noémie Merlant und Nahuel Pérez Biscayart in Ein Jahr, eine Nacht, über den Bataclan-Angriff; und vor allem der überlebensgroße Michael Thomas bei Ulrich Seidl Riminials ausgelatschte Kabarettsängerin zum Teilzeit-Gigolo wurde.

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