Als Deutscher in England für die Euro 2022 sieht Wembley das perfekte Finale | Frauen-EM 2022

Wfür eine Fußballnacht in Brighton! England besiegte Spanien mit 2:1 nach Verlängerung in einem spannenden Spiel, das ich stundenlang hätte verfolgen können. Und was für eine Party im Stadion! Bei Frauenfußballspielen ist es laut, die Atmosphäre gleicht einer Mischung aus Klassenfahrt und Jugenddisco.

Fünfjährige Mädchen, drei Löwinnen auf ihren Hemden, sitzen auf den Schultern ihres Vaters und schwenken die Flagge des Georgskreuzes. Ein glockenheller Kinderchor sang „Fußball kommt nach Hause“, auch Großväter stimmten mit ein Wunderwand. Das letzte Mal, dass ich mich so englisch fühlen durfte, war vor vier Jahren, als ich meine Verwandten besuchte und die königliche Hochzeit am South Pier in Blackpool beobachtete und eine Münze in den Spielautomaten warf.

Als deutscher Reporter war ich bis einschließlich Viertelfinale in England, um über die EM zu berichten. Ich schaue Fußball seit mehr als vier Jahrzehnten. Ich erinnere mich an viele Kämpfe gegen Italien, die Niederlande oder Argentinien. Aber wir Deutschen haben einen Lieblingsgegner und das ist England.

Damit erlebt London am Sonntag das perfekte Finale. Bilde ich mir das ein oder höre ich in englischen Kommentaren eine leichte Verzweiflung, dass der Gegner ausgerechnet Deutschland ist, der vierfache Weltmeister der Männer und der achtfache Europameister der Frauen – der am Ende (fast) immer gewinnt?

Für mich und die meisten Menschen in meinem Alter ist England mehr als ein Rivale. Wir haben schon oft auf dem Fußballplatz gewonnen und es ist gut möglich, dass es diesmal wieder klappt. Aber eigentlich wollen wir wie die Engländer sein. England ist ein Sehnsuchtsort meiner Generation, die mit Musik aus London, Manchester, Liverpool und Newcastle aufgewachsen und vielleicht ein bisschen weltoffen geworden ist.

Popkulturell spielt England in einer eigenen Liga – man muss nicht zum Elfmeterschießen. Wir haben nicht Monty Python und James Bond, wir haben nicht die Beatles, die Stones, Joy Division, die Smiths, Depeche Mode, die Kinks, The Cure, Oasis, Queen … Entschuldigung, es ist Fußball, wir nicht haben entweder Wembley oder Nick Hornby. Wir waren enttäuscht, als England und der Rest des Vereinigten Königreichs uns 2016 verließen. Aber wenn England nicht mehr in unserem Club sein will, können wir uns vielleicht ihrem anschließen? Das denken viele von uns spätestens nach dem dritten Pint.

„Achtung, Aufgeben! Für dich Fritz ist der Euro 96 vorbei!“ Die Schlagzeilen in den englischen Boulevardzeitungen haben uns damals etwas erschreckt. Aber mir, dem Enkel eines Nazis, muss niemand erklären, wie das Deutschlandbild im Ausland zustande kommt. Natürlich haben wir 1996 gerne gewonnen, und auch 1990. Aber wir haben mit Gazza geweint und Gary Lineker ist sowieso der Coolste. Zugegeben, wir haben ein bisschen über Gareth Southgate gelacht, aber er selbst hat es dann auch getan.

Nun setzen die Frauen die Tradition fort. Beide Mannschaften repräsentieren das, wofür ihre Fußballnationen bekannt sind. Deutschland ging als Außenseiter in das Turnier. Sie sind ein Turnermannschaft – eine Turniermannschaft. Sie können schwierige Spielphasen wie gegen Spanien überstehen. Sie sind schwer zu schlagen und wissen, wie man ein Tor erzielt, selbst ein billiges. Magie ist uns fremd, unsere Tugenden sind Effektivität und Mentalität.

Lena Oberdorf (rechts) ist Deutschlands Körperwunder im Mittelfeld. Foto: Vincent Mignott/EPA

Deutschland hat ein physisches Wunder im Mittelfeld – dort räumt Lena Oberdorf auf. Im Tor wird es keine Überraschung geben, es gibt Qualität. Merle Frohms ist zierlich, springt aber höher und weiter als andere Torhüterinnen. Tipp an England: Das Finale solltet ihr spätestens nach 120 Minuten entschieden haben.

Das deutsche Team wird von Alexandra Popp vertreten. Die Torjägerin war lange verletzt, dachte an ein Karriereende, war kurz vor dem Turnier mit Covid infiziert und stand im ersten Match nicht in der Startelf. Dann war sie die erste Frau, die in fünf EM-Spielen in Folge traf. Beim Kopfballtreffer zum 2:1-Sieg gegen Frankreich sprang sie mit Anlauf in ihre Gegnerin, doch zum Glück traf ihr nur der Zopf ins Gesicht. Die Luftkämpfe zwischen Popp und Millie Bright könnten für Wirbel sorgen.

Und England hat, wie man in Deutschland sehen kann, die beste Zeit seines Lebens. Die Qualität und Vielfalt der Tore von Beth Mead ist wohl einzigartig im Frauenfußball, und wir haben ihr in unserer Redaktion eine ganze Podcast-Episode gewidmet. Lucy Bronze verteidigt so hart wie Kyle Walker. In München reden alle über Sadio Mané und Matthijs de Ligt, aber Georgia Stanway ist vielleicht Bayerns spektakulärster Transfer. Ihr Kampf mit Oberdorf im Zentrum wird in London von Bedeutung sein.

Stanways Siegtor gegen Spanien war ein Höhepunkt des Turniers. Wie alle im Stadion von Brighton hat es mich aus meinem Sitz gehoben. Die ganze Kraft auf einen Schlag. Das ist Female Empowerment, das ist Fußball, wie wir ihn lieben. Wir Engländer und Deutschen sind in unseren Spielvorstellungen verwandt, die in vergangenen Jahrhunderten verwurzelt sind. Wir sind näher dran als an Frankreich oder Spanien.

Am Tag vor dem Eröffnungsspiel habe ich meinen Cousin kennengelernt, der Engländer ist, in der Nähe von Warrington aufgewachsen ist und lebt und vom gleichen Nazi-Großvater abstammt wie ich.

Er erzählte mir von seiner Liebe zum Frauenfußball. Den Profisport der Männer lehnt er ab, verfolgt aber mit Begeisterung die Spiele der Frauen. Vielen geht es ähnlich. Meine Eindrücke aus den Stadien in Manchester, Brentford oder Brighton: Wer dort ist, hat sich mit dem Spiel angesteckt, das lange Zeit nur Männern vorbehalten war. Sie erkennen sich in den Spielern wieder. In Deutschland sind die TV-Quoten hoch, die Vorfreude auf das Finale am Sonntag riesig. Wer einen Sitzplatz in der Fanzone in Berlin haben möchte, muss zwei Stunden vorher da sein. In diesem Sommer machen die Frauen unsere beiden Nationen stolz und glücklich.

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Es wurde durch eine traurige Nachricht getrübt. Als ich in der Londoner U-Bahn auf dem Weg zum Brentford-Stadion war, erfuhr ich vom Tod von Uwe Seeler. Die Bilder des Westdeutschland-Kapitäns von 1966, der mit gesenktem Kopf über das Wembley-Feld schleicht oder sich bei der Siegerehrung vor der Queen verneigt, sind ikonisch. Er ist für immer der tragische, rechte Verlierer. Er wird wie Beckenbauer oder Haller, Hurst oder Charlton unvergessen bleiben.

Am Sonntag kann es ein großes Finale werden. Diesmal haben Frauen die Chance, sich in die Geschichtsbücher einzutragen. Dass sie in einem halben Jahrhundert in England und Deutschland noch von sich reden machen werden.

Oliver Fritsch ist Sportredakteur bei Zeit Online, Berlin

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