Die Räumung von Lützerath: Das Dorf wird für eine Zeche zerstört – ein Fotoessay | Deutschland

Seit 2020 besetzen Umweltaktivisten Bäume, Felder und Häuser in Lützerath, einem Weiler nahe der nordrhein-westfälischen Stadt Erkelenz. Sie wehren sich gegen die Räumung des Dorfes und gegen den Energiekonzern RWE, der die Millionen Tonnen Braunkohle fördern will, die unter dem Dorf liegen.

Die meisten Ureinwohner des Bauerndorfes sind nach Entschädigungen längst verschwunden und wurden in den letzten anderthalb Jahrzehnten umgesiedelt.

Die Aktivisten organisierten sich, bauten Strukturen und Baumhäuser und eine Küche, in der täglich mehr als 1.000 Mahlzeiten aus gespendeten Lebensmitteln zubereitet wurden.

Aktivisten wärmen sich an einem Lagerfeuer
Aktivisten tragen ein Holzbrett, um eine Barrikade zu bauen, um sich vor der Räumung zu schützen
Aktivisten blockieren den Schaufelradbagger am Rande des Tagebaus Garzweiler II am Ortsrand
Der Braunkohletagebau Garzweiler II

2020 beschloss die Bundesregierung den Ausstieg aus der Kohleverstromung bis spätestens 2038. Doch der Krieg in der Ukraine, Gasknappheit und die Energiekrise haben die Prioritäten verschoben und die Regierung kündigte an, vorübergehend wieder auf Kohle zu setzen.

Fünf Dörfer, die bereits teilweise umgesiedelt wurden, können verbleiben, aber es wurde entschieden, dass Lützerath zerstört werden muss. Als Kompromiss wird der Kohleausstieg in Nordrhein-Westfalen von 2038 auf 2030 vorgezogen.

Aktivisten streuen Glitzer auf ihre Hände, nachdem sie sie mit Klebstoff eingerieben haben.  Viele Aktivisten stechen sich mit einer Nadel in die Fingerspitzen und versiegeln die Fingerspitzen mit Klebstoff, um es der Polizei zu erschweren, sie zu identifizieren

Von Klimaaktivisten hervorgehobene Studien zeigen, dass die Kohle unter Lützerath nicht mehr benötigt wird, Studien im Auftrag der Regierung und des Energiekonzerns zeigen jedoch das Gegenteil. In Nordrhein-Westfalen werden jährlich rund 200 Millionen Tonnen Kohlendioxid emittiert. 22 % davon entfallen auf die rheinische Braunkohle. Aktivisten sagen, die Förderung von Kohle würde das im Pariser Abkommen festgelegte 1,5-Grad-Ziel zur Begrenzung der globalen Erwärmung gefährden. Als Grund für die Räumung geben die Aktivisten Profitgier an. In einer Umfrage des ZDF Polit-Barometers sprachen sich 59 % der Befragten gegen die Rodung des Dorfes aus, während 33 % dafür waren. Der Kampf um Lützerath ist auch ein Kampf um Narrative, der in den Medien ausgetragen wird

Als ich letzten Sommer zum ersten Mal in Lützerath war, war es schwierig, mit den Aktivisten zu sprechen, da sie befürchteten, dass dies zu Zielscheiben der Polizei führen könnte. Aber als ich am Vorabend der Zerstörung das Dorf besuchte, war es anders, die Leute redeten gerne.

Ein Aktivist sitzt auf einem Einbeinstativ

In den Tagen vor der Räumung gleicht das Dorf einem Ameisenhaufen und überall wird gehämmert und geschraubt. Aktivisten tragen Baumstämme, Steine ​​und Bauzäune und stapeln sie zu Barrikaden. Feuer werden angezündet, um den Asphalt aufzuweichen und ihn mit Löchern und Gräben zu durchlöchern. Die Aktivisten wollen Lützerath entschlossen verteidigen.

Die meisten wollen das friedlich tun. Durch Barrikaden, Stative, einbetonierte Türen und an Seilen aufgehängte Podeste wollen sie der Polizei die Evakuierungsarbeit so schwer wie möglich machen. Sie ketten sich auch in sogenannten Lock-Ons aneinander. Diese Maßnahmen bedeuten, dass die Polizei Spezialeinheiten entsenden muss, um mit den Protesten fertig zu werden, die von den Demonstranten als „Kletterpolizisten“ bezeichnet werden.

Eine Szene im besetzten Dorf
Aktivisten bereiten ein Baumhaus für die Räumung vor
Aktivisten entzünden Feuer, um Beton aufzuweichen
Aktivisten malen ihre Gesichter

  • Oben links: Aktivisten haben ein Trampolin in die Bäume gehängt, um die Räumung der Baumhäuser und derjenigen auf dem Trampolin zu erschweren. Oben rechts: Aktivisten bereiten ein Baumhaus für die Räumung vor. Oben links: Aktivisten entzünden Feuer, um Beton aufzuweichen – die entstehenden Löcher sollen ein Hindernis für die Polizei darstellen. Oben rechts: Aktivisten schminken sich auf dem Dachboden der ehemaligen Scheune von Eckardt Heukamp

Am Dienstag sitzt eine Aktivistin namens „Turtle“ auf einer Plattform vor ihrem Baumhaus. Die meisten Aktivisten sind maskiert und haben Aktionsnamen, um es der Polizei zu erschweren, sie zu identifizieren. „Ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, vor dem Sitzstreik zu sitzen und die Räumung der ersten Strukturen zu verhindern“, sagte sie. „Ich bin hier, um zu kochen, um Lützerath am Leben zu erhalten. Ich möchte nicht, dass sie ein totes Dorf räumen, sondern ein Dorf voller Leben.“

Kurz darauf gibt es eine Durchsage über die Radios der Aktivisten. Wer eine Pause vom Sit-in und dem Widerstand gegen die Polizei braucht, kann in einer Viertelstunde mitten im Dorf einem klassischen Konzert lauschen, heißt es. Auch der Widerstand in Lützerath ist kreativ, und die Aktivisten, die schon lange dort sind, haben Strukturen und Regeln etabliert, nach denen sie leben.

Polizei am Ortseingang von Lützerath

Am Mittwoch beginnt die Räumung. Es geht viel schneller, als die meisten Aktivisten gehofft hatten. Spezialeinheiten der Polizei dringen von allen Seiten zu Hunderten in Lützerath ein. Bald sind sie überall im Dorf, inspizieren und zerstören die ersten auf dem Boden errichteten Baumhäuser und tragen Aktivisten davon.

Großdemonstration zwischen Keyenberg und Lützerath am 14. Januar 2023

  • Großdemonstration zwischen Keyenberg und Lützerath am 14. Januar, danach stürmten Tausende Demonstranten nach Lützerath. Sie wurden kurz vor den Toren von der Polizei mit Gewalt gestoppt.

Gelegentlich setzen Demonstranten Pyrotechnik ein und werfen Steine, aber dies endet angesichts der Stärke des Räumungskommandos bald. Bagger schieben die Barrikaden der Aktivisten innerhalb von Minuten beiseite.

Aktivisten klettern auf das Dach des Paulshofs
Aktivisten und Polizisten auf dem Dach des besetzten Paulshofs
Ein Bagger räumt Barrikaden
Die Polizei nimmt festgenommene Aktivisten mit

Am zweiten Tag der Räumung bin ich in einem Baumhaus namens Paula. Die Treppe war vor ein paar Tagen abgerissen worden, um die Polizeiarbeit zu erschweren, also werde ich mit einem Klettergurt hochgezogen. Oben sitzen Aktivisten auf den Dächern, einer schneidet sich mit einer Nadel in die Fingerkuppen, bevor er sie mit Sekundenkleber und Glitzer versiegelt. „Das hält einige Zeit an und man kann keine Fingerabdrücke nehmen“, sagt er.

Die Paula gilt als letzte Bastion der Hausbesetzer, der Ort, an dem sich viele gewaltbereite Dorfverteidiger verschanzt haben. Für viele scheint die Entscheidung für eine Räumung oder ein unidentifiziertes Verlassen des Geländes noch nicht gefallen zu sein. Aber dann geht alles schnell. Ich schaffe es gerade noch in den Hof, bevor die Polizei eintrifft. Minuten später räumen sie die Barrikade vor dem Hof ​​und stürmen das Areal. Aktivisten auf den Dächern zünden Rauchfackeln an. Die Räumung wirkt fast wie eine Polizeiübung. Und es bleibt friedlich.

Polizisten zerstören ein Holzhaus

  • Die Polizei zerstört am ersten Tag der Räumung ein Holzhaus im Zentrum des Dorfes, dem sogenannten Phantasialand

Zwei Aktivisten, die sich Pinky und Brain nennen, veröffentlichen ein Video von einer selbstgebauten Tunnelanlage unter Lützerath. Die Aktivisten haben sich dort verschanzt, was eine sichere Evakuierung durch die Polizei erschwert. Tage später verlassen sie den Tunnel freiwillig; Sie schienen keine Rettung zu brauchen.

Der Abriss des Hauses des Bauern Eckardt Heukamp

Der Samstag ist kalt und nass. Zehntausende Menschen haben sich bei der Großdemonstration in Keyenberg versammelt und marschieren friedlich auf die Großkundgebung bei Lützerath zu. Das Dorf ist fast vollständig geräumt. Die prominenten Aktivistinnen Greta Thunberg und Luisa Neubauer sprechen. An dieser Stelle haben Tausende den Zug über die nassen Felder abgebrochen und eilen Richtung Lützerath. Die Polizei wirkt zunächst unkoordiniert und schlägt auf Demonstranten ein. Eine Schlammschlacht beginnt, Dreck wird geworfen und ein Feuerwerk wird gezündet.

Die Polizei eskortiert einen Aktivisten weg

Vor den Toren von Lützerath endet der Sturm vor mehreren Polizeibarrikaden und Wasserwerfern. Lützerath, einst Traumort und Utopie der Aktivisten und Symbol der Klimabewegung, ist innerhalb weniger Tage zur Festung eines Energiekonzerns geworden.

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