Europa verliert seinen moralischen Kompass – wie findet es sich ohne Merkel zurecht? | Marion Van Renterghem

Der Abgang der pragmatischen Kanzlerin wird nicht nur für Deutschland, sondern auch für die EU ein Wendepunkt sein

Während einer Abschiedstour der europäischen Staats- und Regierungschefs im Sommer besuchte Angela Merkel die Königin. Die wenigen gefilmte Minuten ihrer Ankunft in Windsor sind unwiderstehlich. Auf der einen Seite die Königin in einem grünen Blumenkleid, ihr Lächeln wird von jahrhundertealten Regeln und Traditionen bestimmt. Auf der anderen eine schüchtern wirkende Frau in Hose und lila Jacke, die zu oft mit dem Kopf nickt und versucht, die richtigen Rituale zur Begrüßung eines Monarchen einzuhalten. Elizabeth und Angela: zwei gegensätzliche Welten, zwei völlig unterschiedliche Funktionen und doch Ähnlichkeiten. Diese langweiligen Reden traut sich keiner mehr. Dieser Stil, diese Ruhe, diese Stabilität und diese Art, ihre Länder zu verkörpern.

Merkel verkörpert heute mehr als Deutschland; sie verkörpert Europa. Sie ist eine Pop-Ikone, die wie ein Lied in unser Bewusstsein eingetreten ist. Tassen, T-Shirts und sogar Zitronenpressen werden nach ihrem Bild verkauft. Aber ihr Aufstieg und ihre Langlebigkeit bleiben ein Rätsel. Wie konnte diese Frau, die den Insignien der Macht so seltsam gleichgültig war, eine Partei übernehmen, die ein halbes Jahrhundert lang von konservativen Männern gehalten wurde, und dann viermal hintereinander gewählt werden, um eine der Großmächte der Welt anzuführen? Wie wurde sie zu einem solchen Vorbild, dass ein Schuljunge sie einmal ganz unschuldig fragte: „Kann ein Junge auch Kanzler werden?“

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