Warum die Schweiz einen 2 Kilometer langen Zug gebaut hat

(CNN) — Hoch in den Schweizer Alpen hat sich St. Moritz einen Namen als Ort gemacht, an dem die Grenzen des Wintersports verschoben werden. Als es 1928 die zweiten Olympischen Winterspiele ausrichtete, war sein Ruf als Spielplatz für wohlhabende Abenteurer bereits gut etabliert.

Am Samstag setzte die Region ihre lange Tradition fort, mit einem epischen Weltrekordversuch die Grenzen des Machbaren zu erweitern – nicht auf Schnee oder Eis, sondern auf Schienen.

Anlässlich des 175-jährigen Jubiläums der ersten Eisenbahn der Schweiz hat sich die Eisenbahnindustrie des Landes zusammengeschlossen, um den längsten Personenzug der Welt aller Zeiten zu betreiben – 100 Waggons, 2.990 Tonnen und fast zwei Kilometer lang.

Der aus 25 neuen „Capricorn“-Elektrozügen bestehende Rekordzug mit einer Länge von 1.906 Metern benötigte für die rund 25 Kilometer lange Strecke von Preda nach Alvaneu in der Ostschweiz rund 25 Kilometer über die spektakuläre Albulalinie, die zum UNESCO-Welterbe gehört.

Wie die legendäre Schlittelbahn Cresta Run ist auch die Albulalinie berühmt für ihre endlosen Kurven und steilen Abfahrten. Die 62 Kilometer lange Strecke zwischen Thusis und St. Moritz ist ein weltberühmtes Meisterwerk des Bauingenieurwesens und wurde in nur fünf Jahren gebaut, obwohl 55 Brücken und 39 Tunnels erforderlich waren.

Vor seiner Fertigstellung im Juli 1904 mussten sich die Besucher einer riskanten 14-stündigen Fahrt über holprige Wege in Pferdekutschen oder Schlitten stellen.

Herzstück der Strecke ist der 5866 Meter lange Albulatunnel, der tief unter der Wasserscheide zwischen Rhein und Donau verläuft.

Spiralen, hoch aufragende Viadukte und Tunnel

Der Zug fuhr spiralförmig eine Serpentine von Gleisen durch die Berge hinunter.

swiss-image.ch/Philipp Schmidli

Auf einem Teil der Strecke, die der weltberühmte Glacier Express seit 1930 fährt, führte der Weltrekordversuch zum spektakulären Landwasserviadukt und den außergewöhnlichen Spiralen, die der Strecke den Status eines internationalen Kulturerbes sicherten.

In weniger als 25 Kilometern stürzte der Zug von 1.788 Metern über dem Meeresspiegel in Preda auf 999,3 Meter in Alvaneu, wobei er eine Reihe von Spiralen, hoch aufragenden Viadukten und Tunneln benutzte.

Der Rekordversuch wurde von der Rhätischen Bahn (RhB) mit Unterstützung des Schweizer Eisenbahnbauers Stadler organisiert und ist vielleicht noch erstaunlicher, weil er auf einer Schmalspurbahn stattfand.

Im Gegensatz zu den meisten schweizerischen und europäischen Bahnen, die die “normale” Spurweite zwischen den Schienen von 1.435 Metern (4 Fuß 8,5 Zoll) verwenden, sind die Schienen der RhB nur einen Meter voneinander entfernt.

Kombinieren Sie dies mit einer Strecke mit notorisch engen Kurven, steilen Steigungen, 22 Tunneln und 48 Brücken über tiefe Täler und die Herausforderungen werden offensichtlich.

Frühere Inhaber des längsten Personenzugrekords der Welt – Belgien und davor die Niederlande – nutzten Eisenbahnen mit Normalspur durch flache Landschaften zu ihrem Vorteil.

Monate vor dem RhB-Event begannen jedoch die Vorbereitungen, einschließlich Testfahrten, um sicherzustellen, dass der einzigartige Zug sicher betrieben werden kann.

„Wir alle kennen die Albulalinie sehr gut, jeden Steigungswechsel, jede Steigung“, sagte Führungsfahrer Andreas Kramer, 46, vor dem großen Tag. “Natürlich durchlaufen wir den Prozess immer wieder.”

Er fügte hinzu: „Wir müssen jede Sekunde zu 100 % synchronisiert sein. Jeder muss seine Geschwindigkeit und andere Systeme jederzeit unter Kontrolle halten.“

Eine erste Testfahrt scheiterte, noch bevor der Zug losgefahren war, als festgestellt wurde, dass das Notbremssystem nicht aktiviert werden konnte und die sieben Fahrer in den vielen Tunneln nicht per Funk oder Handy miteinander kommunizieren konnten.

Kramer, unterstützt von sechs weiteren Fahrern und 21 Technikern, nutzte stattdessen ein temporäres Feldtelefonsystem, das vom Schweizerischen Zivilschutz eingerichtet wurde, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten, während der Zug mit bis zu 35 km/h durch unzählige Tunnel und tiefe Täler fuhr.

Eine speziell angepasste Software und eine Gegensprechanlage zwischen den sieben Fahrern ermöglichten ein harmonisches Zusammenspiel der 25 Züge. Jegliche Diskrepanz bei Beschleunigung oder Verzögerung während der Fahrt hätte unannehmbar hohe Kräfte auf Gleise und Stromversorgungen ausgeübt und ein großes Sicherheitsproblem geschaffen.

RhB-Direktor Renato Fasciati sagte: „Die Schweiz ist ein Bahnland wie kein anderes. Dieses Jahr feiern wir 175 Jahre Schweizer Eisenbahnen. Mit diesem Weltrekordversuch wollten die RhB und ihre Partner ihren Teil zu einer Pionierleistung beitragen, die gelungen ist noch nie zuvor gesehen.”

Partystimmung

Der Zug bestand aus 100 Waggons.

Der Zug bestand aus 100 Waggons.

Fabrice Coffrini/AFP/Getty Images

Auf der langen Abfahrt wurde die Geschwindigkeit durch regeneratives Bremsen gesteuert, ähnlich wie bei einigen Elektroautos, die Strom in die 11.000-Volt-Oberleitungen zurückspeisten.

Bei so vielen Zügen im selben Streckenabschnitt gab es jedoch Bedenken, dass sie zu viel Strom in das System zurückspeisen könnten, was sowohl Züge als auch lokale Stromnetze überlasten könnte. Um dies zu vermeiden, wurde die Höchstgeschwindigkeit des Zuges auf 35 km/h begrenzt und die Software musste modifiziert werden, um die Rückspeisung zu begrenzen.

Außerdem mussten im gesamten Zug zusätzliche Sicherheitssteuerkabel verlegt werden, um die standardmäßigen mechanischen und pneumatischen Verbindungen zwischen den Zügen zu unterstützen.

Am grossen Tag organisierte die RhB ein Eisenbahnfest in Bergün und 3000 glückliche Ticketinhaber konnten den Rekordversuch via Live-TV-Übertragung miterleben und dabei lokale Unterhaltung und Gastronomie geniessen. Der normale Verkehr durch den Albulatunnel nach St. Moritz und darüber hinaus wurde für 12 Stunden eingestellt.

Drei Satelliten-Uplinks, 19 Kameras in Drohnen und Hubschraubern im Zug und entlang der Strecke filmten den Zug und lieferten eine einzigartige Aufzeichnung dieses einmaligen Ereignisses. Dies allein war eine große Herausforderung in einer abgelegenen Bergregion mit begrenzter Mobilfunkabdeckung.

Eine Eisenbahnnation

Organisiert wurde der Rekordversuch anlässlich des 175-jährigen Jubiläums der Schweizer Bahnen.

Organisiert wurde der Rekordversuch anlässlich des 175-jährigen Jubiläums der Schweizer Bahnen.

Fabrice Coffrini/AFP/Getty Images

Für ein kleines Land mit einer Berglandschaft, die auf den ersten Blick für Eisenbahnen ungeeignet erscheint, schlägt die Schweiz weit über ihr Gewicht in der Industrie hinaus.

Die Notwendigkeit hat es längst zu einem Pionier im Elektro-, Maschinenbau- und Bauwesen gemacht und seine Technologie und sein Know-how werden in die ganze Welt exportiert.

Ingenieurleistungen wie die Gotthard-Basistunneleröffnet im Jahr 2016, setzen eine lange Tradition fort, die Grenzen des Möglichen zu erweitern.

Die Schweizer sind aus gutem Grund die eifrigsten Bahnnutzer der Welt und legen jährlich durchschnittlich 2450 Kilometer mit der Bahn zurück – ein Viertel ihrer Gesamtjahressumme. Wie in anderen europäischen Ländern ist die Mobilität in den letzten Jahrzehnten explodiert – die durchschnittliche jährliche Distanz, die mit Auto und öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt wird, hat sich in den letzten 50 Jahren verdoppelt.

19,7 Milliarden Personenkilometer legten sie 2019 mit der Bahn zurück, dem letzten „normalen“ Jahr vor der Covid-19-Pandemie. Im Jahr 2021 sank diese Zahl auf 12,5 Milliarden Personenkilometer, aber da die Schweiz den 175. Jahrestag seit der Eröffnung der ersten Eisenbahn zwischen Zürich und Baden feiert, sind die Fahrgastzahlen auf dem besten Weg, wieder das Niveau vor der Pandemie zu erreichen.

Die Erwartungen der ÖV-Nutzer in der Schweiz sind so hoch, dass schon eine kleine Verspätung für leise Unzufriedenheit sorgt. Und das nicht ohne Grund; Viele Fahrten in und um die größten Städte der Schweiz sind multimodal und auf reibungslose Verbindungen zwischen Zügen, Straßenbahnen, Bussen und sogar Schiffen an gut organisierten Umsteigepunkten angewiesen.

Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) haben 2021 auf einem 3265 Kilometer langen Netz mit 804 Bahnhöfen 11 260 Züge mit 880 000 Fahrgästen und 185 000 Tonnen Fracht pro Tag betrieben.

Nimmt man die über 70 „privaten“ Normal- und Schmalspurbahnen hinzu, von denen viele auch ganz oder teilweise in öffentlichem Besitz sind, ist das Netz mit rund 5.300 Kilometern das dichteste Schienennetz der Welt.

Ein stark koordiniertes Netz integriert die SBB-Züge mit zahlreichen anderen Betreibern, ausgedehnten Schmalspurbahnen wie der Rhätischen Bahn (RhB), Berg-Zahnradbahnen, Standseilbahnen, Postautos, Luftseilbahnen, Schiffen und mehr und bietet einen zuverlässigen autofreien Zugang zu jeden Winkel des Landes (vgl www.swisspass.ch).

Jahrzehntelange langfristige Investitionen haben ein Kernnetz intensiv genutzter Hauptstrecken geschaffen, die alle großen Städte des Landes verbinden. Eingespeist werden hochfrequente S-Bahn-Systeme in den größten Städten sowie regionale und lokale Eisenbahnlinien, Straßenbahnen und Bergbahnen, von denen viele eine wichtige Verbindung zur Außenwelt für ländliche und hochgelegene Gemeinden darstellen.

Trotz massiver Investitionen in den letzten vier Jahrzehnten durch langfristige Ausbauprogramme wie „Bahn 2000“. Die Schweizer Bahnen werden Opfer ihres eigenen Erfolgs. Während die allgemeine Pünktlichkeit der SBB für Außenstehende immer noch beeindruckend erscheint, gibt es Bedenken hinsichtlich der sich verschlechternden Leistung, der steigenden Kosten und ihrer Fähigkeit, nach den verheerenden finanziellen Verlusten von 2020-21 wichtige Wartungsarbeiten und Großprojekte zu finanzieren.

Auf dem Netz der SBB kommt es noch vergleichsweise selten zu Störungen, doch die Zuverlässigkeit hat in den letzten Jahren aufgrund von Staus, Personalmangel und mangelnder Pünktlichkeit der Züge aus den Nachbarländern abgenommen.

Strategische Position

BERGUEN, 29OKT22 - Impression von der Weltrekordfahrt des längsten Personenzugs (1,91 Kilometer) der Rhätischen Bahn auf der UNESCO-Welterbestrecke, der alpinen Albulalinie, in Graubünden am 29. Oktober 2022

Der Zug stürzte bei seinem Abstieg von den Bergen fast 800 Meter in die Tiefe.

MAYK WENDT

Im Herzen Westeuropas gelegen, zwischen den Industriezentren Deutschland, Frankreich und Norditalien, spielt die Schweiz auch eine strategische Schlüsselrolle in der gesamten europäischen Wirtschaft – wie schon seit dem Mittelalter.

Jahrhundertelang stellten die Alpen eine gewaltige Barriere für Reisende und den Handel in diesem Teil Europas dar, aber in den letzten zwei Jahrzehnten wurden Milliarden von Schweizer Franken investiert, um die langen Gotthard- und Lötschberg-Basistunnel tief unter den Alpen zu bauen.

Während andere Länder über die Ausgaben für den öffentlichen Verkehr streiten und schwanken, eröffnete der Schweizer Bundesrat im Juni 2022 die Konsultationen zu seinem nächsten Programm für langfristige Investitionen in die Bahn. Die Perspektive Bahn 2050 ist ein detailliertes Vorschlagsbündel mit klarem Fokus auf die Entwicklung des Personennah- und Mittelstreckenverkehrs zur Förderung der Abkehr vom Auto.

Der Ausbau des bestehenden Netzes zur Schaffung zusätzlicher Kapazitäten soll gegenüber größeren Infrastrukturprojekten priorisiert werden. Verkehrsministerin Simonetta Sommaruga sagt: «Es geht nicht darum, auf einer Stammstrecke wie Zürich-Bern ein paar Minuten zu sparen. Auf solchen Strecken ist die Bahn schon jetzt unschlagbar. Es geht vielmehr um den Ausbau, wo die Schiene aufgehört hat.»

Der Plan soll voraussichtlich bis 2026 in Kraft treten und soll die jährliche Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel von 26 Milliarden Personenkilometern auf 38 Milliarden Personenkilometer bis 2050 steigern, den Anteil der Schiene am Personen- und Frachtmarkt „deutlich“ erhöhen und sicherstellen, dass der Schienenverkehr gewährleistet ist noch enger mit anderen Verkehrsträgern verzahnt, um allen mehr Mobilität zu bieten.

Kritiker führen im Vergleich zu Ländern wie Grossbritannien und Deutschland oft die geringere Bevölkerungszahl und die relativ kurzen Entfernungen der Schweiz an und behaupten, dass es unmöglich sei, in grösseren Ländern ähnlich integrierte öffentliche Verkehrsnetze aufzubauen.

Es ist wahr, dass die Schweizer etwas gebaut haben, das ideal zu ihrer Geographie, Kultur und Bevölkerungsdichte passt, aber unabhängig von den Argumenten an anderer Stelle ist die unglaubliche Leistung der RhB am 29. Oktober eine enorm beeindruckende Demonstration der Weltklassefähigkeiten der Schweiz im Bereich der Bahntechnologie.

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